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Richtlinien für die Bearbeitung von Ermittlungsverfahren in Jugendstrafsachen bei jugendtypischem Fehlverhalten (Diversionsrichtlinien)
Gem. RdErl. d. MJ, d. MI u. d. MS v. 4.6.2012 - 4210-403.103 (Nds.MBl. Nr.20/2012 S.462) - VORIS 33310 -
Bezug: Gem. RdErl. v. 15.1.2007 (Nds.MBl. S.115) - VORIS 33310 -

1. Grundsätze

1.1 Anlass und Ziele der Richtlinien

Wenn Jugendliche und Heranwachsende leichte bis mittlere Verfehlungen begehen, handelt es sich häufig um entwicklungsbedingtes und deswegen einmaliges oder episodenhaftes Verhalten, welches auch ohne Verurteilung nicht wiederholt wird oder sich verfestigt (jugendtypisches Fehlverhalten). In den §§ 45 und 47 JGG ist eine Reihe von Möglichkeiten vorgesehen, von der Verfolgung Jugendlicher und Heranwachsender abzusehen und Strafverfahren einzustellen (Diversion). Andererseits können kleine und mittlere Verfehlungen auch Ausdruck eines erzieherischen Defizits bis hin zum Beginn der Entwicklung einer kriminellen Karriere sein. Aufgabe der Polizei und Staatsanwaltschaften ist es, in allen Fällen zeitnah, im Einzelfall erzieherisch angemessen, verhältnismäßig und nötigenfalls abgestuft auf Verfehlungen zu reagieren.

Nach wissenschaftlichen Erkenntnissen ist eine förmliche jugendgerichtliche Verurteilung in Fällen jugendtypischen Fehlverhaltens erzieherisch in der Regel nicht erforderlich. Sie kann auch im Hinblick auf die Behandlung vergleichbarer Straftaten anderer junger oder erwachsener Personen unverhältnismäßig sein. Eine jugendgerichtliche Verurteilung kann sogar aufgrund von Stigmatisierungseffekten erzieherisch verfehlt sein.

Das Diversionsverfahren bietet demgegenüber die Möglichkeit, sehr kurzfristig und damit erzieherisch besonders wirksam auf Verfehlungen zu reagieren. Im Diversionsverfahren können geeignete erzieherische Maßnahmen ergriffen werden, die weiteren Verfehlungen entgegen wirken.

Diese Richtlinien sollen den Staatsanwaltschaften Hinweise und Anregungen für eine vermehrte Nutzung der in den §§ 45 und 47 JGG eröffneten informellen Erledigungsmöglichkeiten geben, die polizeiliche Ermittlungstätigkeit in geeigneten Fällen auf dieses Ziel ausrichten und für eine sachgerechte Mitwirkung der Jugendhilfe im Strafverfahren gemäß § 38 JGG i.V.m. § 52 SGB VIII in diesen Fällen sorgen.

Die Zusammenarbeit und Vernetzung der im Jugendstrafverfahren beteiligten Behörden und Institutionen soll gefördert werden. Durch die Richtlinien soll zugleich - soweit dies im Einzelfall erzieherisch angemessen ist - eine Gleichbehandlung gleich gelagerter Fälle erreicht werden.

1.2 Allgemeines

1.2.1 Entscheidungskompetenz

Über die Durchführung der Diversion entscheiden die Staatsanwaltschaften und Gerichte. Sie haben dabei mit Blick auf die erzieherischen Erfordernisse im Einzelfall einen weiten Beurteilungs- und Entscheidungsspielraum. Die Polizei und die Jugendhilfe im Strafverfahren stellen deshalb eine Diversion nicht konkret in Aussicht, sollen aber in geeigneten Fällen jederzeit Anregungen zur Diversion geben, erforderlichenfalls verbunden mit Anregungen für bestimmte erzieherische Maßnahmen. Die Polizei kann mit der Durchführung des erzieherischen Gesprächs, die Jugendhilfe durch Einleitung geeigneter Maßnahmen die Voraussetzung für eine mögliche Diversion schaffen. In Zweifelsfällen kann aus erzieherischen Gründen eine vorherige Abstimmung mit der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht geboten erscheinen.

1.2.2 Vorrang der Unschuldsvermutung

Liegt ein hinreichender Tatverdacht nicht vor, ist eine Diversion nach § 45 JGG nicht zulässig. Einstellungen nach § 170 Abs. 2 StPO haben stets Vorrang vor Diversionsentscheidungen.

Liegen die Voraussetzungen des § 3 JGG nicht vor, stellt die Staatsanwaltschaft das Verfahren ohne Anwendung des § 45 JGG mangels strafrechtlicher Verantwortlichkeit ein.

Liegen die Voraussetzungen eines Freispruchs vor, stimmt die Staatsanwaltschaft einem Vorgehen nach § 47 Abs. 1 Nrn. 1 bis 3 JGG nicht zu.

1.2.3 Behandlung von Privatklagedelikten

Die Vorschrift des § 45 JGG verdrängt nicht die Möglichkeit einer Einstellung des Strafverfahrens bei Privatklagedelikten. Dies gilt auch bei Jugendlichen, sofern nicht Gründe der Erziehung oder ein berechtigtes Interesse der oder des Verletzten, das dem Erziehungszweck nicht entgegensteht, ein Einschreiten von Amts wegen erfordern (§ 80 Abs. 1 JGG). Liegen die Voraussetzungen der Verfolgung eines Privatklagedeliktes nicht vor, so stellt die Staatsanwaltschaft das Verfahren ohne Anwendung des § 45 JGG mangels öffentlichen Interesses ein.

1.2.4 Abwägung gegenüber den §§ 153, 153a, 154 StPO und § 31a BtMG

Die Diversionsregelungen in den §§ 45 und 47 JGG stehen der Möglichkeit einer Einstellung des Strafverfahrens nach den §§ 153, 153a und 154 StPO sowie nach § 31a BtMG nicht entgegen. Die Staatsanwaltschaft prüft, ob bei Verfehlungen eine Einstellung bereits nach diesen Vorschriften möglich ist. Dabei berücksichtigt sie, dass eine solche Verfahrensweise mögliche Stigmatisierungseffekte durch die Eintragung der Verfahrenseinstellung im Erziehungsregister vermeidet. Sie berücksichtigt im Rahmen der Verhältnismäßigkeit und Gleichbehandlung auch, dass bei Erwachsenen eine entsprechende Registrierung nicht erfolgt.

1.2.5 Keine Diversion bei ernsthaftem Bestreiten

Die Vorschriften der §§ 45 und 47 JGG werden nicht angewendet, wenn die beschuldigte Person die Tatbegehung substantiiert oder sonst ernsthaft bestreitet.

1.2.6 Verhältnismäßigkeit

Die mit dem Vorgehen nach § 45 oder § 47 JGG einhergehenden erzieherischen Maßnahmen dürfen nicht belastender wirken als ein Jugendgerichtsverfahren mit förmlicher Sanktion.

Die Nutzung des Diversionsverfahrens ist bei gleicher erzieherischer Eignung einem förmlichen jugendgerichtlichen Verfahren grundsätzlich vorzuziehen. Dies gilt auch, wenn sich nicht oder nur mit unverhältnismäßigem Aufwand klären lässt, ob ein förmliches jugendgerichtliches Verfahren eine bessere erzieherische Einwirkung als das Diversionsverfahren gewährleistet.

1.2.7 Anwendung auf Heranwachsende

Die Vorschriften der §§ 45 und 47 JGG und diese Richtlinien finden auch auf Heranwachsende Anwendung, sofern nach § 105 Abs. 1 JGG Jugendstrafrecht angewendet wird. Die Entscheidung darüber obliegt den Staatsanwaltschaften und Gerichten. Die Polizei und die Jugendhilfe im Strafverfahren können unter Hinweis auf tatsächliche Umstände des Einzelfalles Einschätzungen zu den Voraussetzungen des § 105 Abs. 1 JGG abgeben.

1.3 Anwendungsbereich

1.3.1 Sachlicher Anwendungsbereich

Bei den in der Anlage 1 aufgeführten Straftaten kommt regelmäßig ein Vorgehen gemäß den §§ 45 und 47 JGG in Betracht. Der Katalog dient als Orientierungshilfe für die Verfahrensbeteiligten. Er hindert die Staatsanwaltschaften und Gerichte nicht, auch in anderen Fällen entsprechend zu verfahren oder unter den gegebenen Voraussetzungen von anderen Reaktionsmöglichkeiten Gebrauch zu machen. Maßgebend für die Diversionsentscheidung sind hierbei die sich aus den Gesamtumständen ergebende mindere Schwere der Verfehlung sowie die bestehenden Anhaltspunkte für jugendtypisches Fehlverhalten, wie z.B. leichtsinniges, unbekümmertes, ziel- und planloses Handeln aus der Situation heraus, oft getragen von Geltungsbedürfnis oder Erlebnishunger, wie es bei Jugendlichen und Heranwachsenden häufig vorkommt. Bei Anwendung des § 45 JGG oder Zustimmung nach § 47 JGG sind in atypischen Fällen die Gründe für die Entscheidung der Staatsanwaltschaft aktenkundig zu machen.

1.3.2 Persönlicher Anwendungsbereich

Diversion setzt in der Regel eine glaubhaft geständige Person voraus, die erstmals strafrechtlich in Erscheinung tritt.

Wie erstmals strafrechtlich in Erscheinung getreten sind in der Regel auch solche Beschuldigten zu behandeln, die ein Delikt begehen, das von einer früheren Tat entweder nach Art des geschützten Rechtsguts so erheblich abweicht oder nach den Umständen der Tatbegehung jedenfalls nicht erheblich schwerwiegender erscheint als die Vortat oder bei dem die Vortat so lange zurückliegt, dass ein Zusammenhang der Taten, der der weiteren Legalbewährung abträglich sein könnte, nicht besteht.

Eine Diversion kann auch angezeigt sein bei Wiederholungstaten jugendtypischen Fehlverhaltens, sofern durch das Diversionsverfahren oder sonst eine ausreichende erzieherische Einwirkung sichergestellt wird, sodass keine weiteren Straftaten zu erwarten sind.

In Fällen erneuter Delinquenz (Absatz 2 oder 3) ist stets zu prüfen, ob die Verfehlung nicht Ausdruck eines erheblichen erzieherischen Defizits bis hin zum möglichen Beginn der Entwicklung einer kriminellen Karriere ist oder das Vorgehen nach § 45 oder § 47 JGG von der beschuldigten Person als Nachgiebigkeit gegenüber der Verletzung von Straftatbeständen missverstanden werden kann. In diesen Fällen soll von der Diversion kein Gebrauch gemacht werden.

Eine Diversion soll nicht erfolgen, wenn aufgrund konkreter Tatsachen zu erwarten ist, dass sich die beschuldigte Person das Verfahren sowie etwaige erzieherische Maßnahmen nicht zur Warnung dienen lassen und künftig weitere Straftaten begehen wird.

2. Verfahren

2.1 Polizei

2.1.1 Verfahren bei möglicher informeller Verfahrenserledigung

Die Polizei prüft möglichst frühzeitig das Vorliegen der Voraussetzungen der Diversion. Liegt aus Sicht der Polizei ein geeigneter Fall vor, wendet sie die Polizeidienstvorschrift „Bearbeitung von Jugendsachen bei der Polizei” - PDV 382 - mit der Maßgabe an, dass über eine verantwortliche Vernehmung und einen Kontakt mit den Erziehungsberechtigten hinaus weitere Ermittlungen im sozialen Umfeld in der Regel unterbleiben, um Beschuldigte nicht über das unvermeidbare Maß bloßzustellen. Die Ermittlungen zur Tat werden auf das Notwendigste beschränkt und kurzfristig durchgeführt. Die Vorgänge werden danach unverzüglich der Staatsanwaltschaft übersandt.

Durch die Polizei sollen insbesondere folgende für eine Diversionsentscheidung bedeutsamen Umstände ermittelt und aktenkundig gemacht werden:

a) Einschätzung, ob außer den bereits von der Tatentdeckung und den polizeilichen Ermittlungen ausgehenden Wirkungen weiterer erzieherischer Bedarf besteht; falls dies bejaht wird, sollen die Gründe angegeben werden;
b) erzieherische Maßnahmen, die bereits erfolgt oder eingeleitet worden sind, wie etwa
- Wirkung eines durchgeführten erzieherischen Gesprächs,
- erfolgte Entschuldigung bei den Geschädigten,
- geleisteter Schadenersatz oder Wiedergutmachung,
- die Bereitschaft der Beschuldigten und der Geschädigten - soweit diese Anzeige erstattet haben - zum Täter-Opfer-Ausgleich (TOA),
- erfolgte oder konkret zu erwartende Maßnahmen der Erziehungsberechtigten, der Schule, Ausbildungs- oder Arbeitsstelle oder der Jugendhilfe,
- nachteilige Folgen der Tat für die beschuldigte Person wie etwa materielle oder gesundheitliche Folgen oder der Verlust des Ausbildungs- oder Arbeitsplatzes,
- freiwilliger und wirksamer Verzicht auf Gegenstände, die durch die Tat hervorgebracht oder zu ihrer Begehung oder Vorbereitung gebraucht worden oder bestimmt gewesen sind,
- freiwillige und wirksame Einwilligung in die Löschung unrechtmäßig erworbener oder hergestellter Ton- und Bildaufzeichnungen sowie EDV-Programme oder in die Herausgabe sonstiger durch die Tat erworbener Gegenstände.

Im Rahmen der Ermittlungen (Absatz 1) macht die Polizei darüber hinaus folgende für die Diversion bedeutsamen Umstände aktenkundig und ermittelt nötigenfalls ergänzend:

a) bei Jugendlichen: ersichtliche Umstände, die darauf schließen lassen können, dass die beschuldigte Person zur Zeit der Tat nach ihrer sittlichen und geistigen Entwicklung nicht reif genug war, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln (§ 3 JGG),
b) bei Heranwachsenden: erkennbare Umstände, die für die Beurteilung von Bedeutung sind, ob die beschuldigte Person zur Zeit der Tat nach ihrer sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand oder es sich nach der Art, den Umständen oder den Beweggründen der Tat um eine Jugendverfehlung handelt (§ 105 Abs. 1 JGG).

2.1.2 Erzieherisches Gespräch

Liegt ein glaubhaftes Geständnis der beschuldigten Person vor, ist der verwirklichte Straftatbestand eindeutig zu bestimmen und hält die Polizei ein erzieherisches Gespräch als Maßnahme für angemessen, arbeitet sie die Verfehlung in einem solchen Gespräch unter Berücksichtigung des Leitfadens „Erzieherisches Gespräch” des LKA mit der beschuldigten Person auf und verdeutlicht den Unrechtsgehalt der Tat. Bei Minderjährigen sollen nach Möglichkeit bereits von Amts wegen die Erziehungsberechtigten hinzugezogen werden. Auf Verlangen der beschuldigten Person oder einer oder eines Erziehungsberechtigten ist der oder dem Erziehungsberechtigten, einer Verteidigerin oder einem Verteidiger die Teilnahme am Gespräch zu gestatten.

Das Gespräch ist in angemessener Form zu gestalten, wobei insbesondere das Alter und die Persönlichkeit der beschuldigten Person berücksichtigt werden. Es soll bewirken, dass diese zu der Einsicht gelangt, dass ihr Verhalten nicht richtig war. Es können Ratschläge erteilt werden, wie der Rechtsfrieden zwischen der beschuldigten Person und den Geschädigten wiederhergestellt werden kann. Beschuldigte sind darauf hinzuweisen, dass die Entscheidung über die Einstellung des Verfahrens sowie ggf. die Art der Verfahrenseinstellung (siehe auch Nummern 1.2.3 und 1.2.4) der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht obliegt und auch im Fall einer Verfahrenseinstellung nach § 45 oder § 47 JGG eine Eintragung in das Erziehungsregister erfolgt.

Widerspricht einer der Erziehungsberechtigten, die Verteidigerin oder der Verteidiger der Durchführung des erzieherischen Gesprächs, so unterbleibt dies. Dies wird aktenkundig gemacht.

Über das erzieherische Gespräch ist ein Bericht zu erstellen, der mit der Akte der Staatsanwaltschaft vorzulegen ist. Der Bericht soll unter Verwendung des in Anlage 2 wiedergegebenen Vordrucks erstellt werden. Kann der Vordruck nicht verwendet werden, so wird ein inhaltsgleicher Aktenvermerk erstellt.

Es ist sicherzustellen, dass nur besonders geschulte und erfahrene polizeiliche Sachbearbeiterinnen und polizeiliche Sachbearbeiter erzieherische Gespräche führen.

2.1.3 Verfahren in anderen Fällen

In den anderen Fällen ermittelt die Polizei nach pflichtgemäßem Ermessen (PDV 382) und legt die Vorgänge sodann der Staatsanwaltschaft vor.

2.2 Staatsanwaltschaft

2.2.1 Prüfung der Diversionsvoraussetzungen

Die Staatsanwaltschaft prüft in jeder Lage des Verfahrens vor dem Urteil, ob eine Entscheidung im Rahmen der Diversion möglich ist. Anregungen des Gerichts, der Polizei und der Jugendhilfe im Strafverfahren werden unter Berücksichtigung der Sachnähe und Fachkompetenz der anregenden Stelle geprüft. Hält die Staatsanwaltschaft eine Diversion für angemessen, führt sie nach Möglichkeit deren Voraussetzungen kurzfristig herbei.

2.2.2 Beschleunigte Bearbeitung

Verfahren, in denen eine Diversion ersichtlich konkret in Betracht kommt, werden möglichst kurzfristig bearbeitet und abgeschlossen. Es ist jedoch in der Regel geboten, den Eingang des Auszugs aus dem Bundeszentralregister und dem Erziehungsregister abzuwarten. In jedem Fall erfolgt eine Prüfung der Diversionsvoraussetzungen anhand der staatsanwaltschaftlichen Verfahrensliste. Regt die Staatsanwaltschaft gegenüber der Jugendhilfe oder dem Gericht erzieherische Maßnahmen nach § 45 Abs. 2 oder 3 JGG an, setzt sie sich für die kurzfristige Durchführung der Maßnahmen ein.

2.2.3 Absehen von der Strafverfolgung nach § 45 Abs. 1 JGG

Bei jugendtypischem Fehlverhalten prüft die Staatsanwaltschaft unter Berücksichtigung der polizeilichen Einschätzung, ob außer den bereits von der Tatentdeckung und dem Ermittlungsverfahren einschließlich des erzieherischen Gesprächs ausgehenden Wirkungen auf die Beschuldigten erzieherische Maßnahmen aufgrund eines konkreten erzieherischen Bedarfs der Beschuldigten erforderlich sind. Ist dies nicht der Fall, so ist regelmäßig bereits ein Absehen von der Strafverfolgung nach § 45 Abs. 1 JGG angezeigt. Dies gilt auch, wenn erzieherische Maßnahmen von anderer Seite eingeleitet oder durchgeführt worden sind, jedoch nach Einschätzung der Staatsanwaltschaft nicht notwendig sind oder waren.

Das Absehen von der Strafverfolgung erfolgt in diesen Fällen ohne Einschaltung des Gerichts. Die Einschaltung der Jugendhilfe im Strafverfahren soll nur in besonders begründeten Ausnahmefällen erfolgen, sofern die Stellungnahme für die Einschätzung erzieherischer Defizite tatsächlich erforderlich ist.

Die Einstellungsnachricht an die beschuldigte Person soll in erzieherisch geeigneter Weise auf die Gründe für die Einstellung des Ermittlungsverfahrens eingehen. Sie enthält den Hinweis auf die Folgen einer Eintragung in das Erziehungsregister.

2.2.4 Absehen von der Strafverfolgung nach § 45 Abs. 2 JGG

Kommt ein Vorgehen nach § 45 Abs. 1 JGG nicht in Betracht, prüft die Staatsanwaltschaft, ob eine informelle Erledigung im Hinblick auf durchgeführte oder eingeleitete erzieherische Maßnahmen insbesondere der Erziehungsberechtigten, der Jugendhilfe, der Schule, der Ausbildungsstelle oder im Hinblick auf das erzieherische Gespräch durch die Polizei in Betracht kommt. Dabei berücksichtigt sie, dass diese Stellen aufgrund ihrer Sachnähe und Fachkompetenz häufig eine sehr gute Kenntnis von den erzieherischen Bedürfnissen der beschuldigten Person haben. Erscheinen bereits durchgeführte oder eingeleitete Maßnahmen ausreichend, so sieht die Staatsanwaltschaft von der Strafverfolgung nach § 45 Abs. 2 JGG ab. Diese Vorgehensweise kann auch bei einer Wiederholungstat und auch in Fällen bis hin zur mittleren Kriminalität geboten sein.

Die Staatsanwaltschaft kann die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 JGG selbst schaffen. Hierzu kann sie insbesondere mit Beschuldigten ein erzieherisches Gespräch führen. Darin soll die Verfehlung aufgearbeitet und der Unrechtsgehalt der Tat verdeutlicht werden. Bei Minderjährigen sollen nach Möglichkeit bereits von Amts wegen die Erziehungsberechtigten hinzugezogen werden. Auf Verlangen der beschuldigten Person oder einer oder eines Erziehungsberechtigten ist der oder dem Erziehungsberechtigten oder einer Verteidigerin oder einem Verteidiger die Teilnahme am Gespräch zu gestatten. Das Gespräch ist in angemessener Form zu gestalten, wobei insbesondere das Alter und die Persönlichkeit der beschuldigten Person berücksichtigt werden. Es soll bewirken, dass diese zu der Einsicht gelangt, dass ihr Verhalten nicht richtig war. Es können Ratschläge erteilt werden, wie der Rechtsfrieden zwischen der beschuldigten Person und den Geschädigten wiederhergestellt werden kann. Beschuldigte sind darauf hinzuweisen, dass auch bei einer Verfahrenseinstellung nach § 45 JGG eine Eintragung in das Erziehungsregister erfolgt.

Die Staatsanwaltschaft kann auch erzieherische Maßnahmen gegenüber den Erziehungsberechtigten oder der Jugendhilfe anregen. Dies gilt auch für den TOA. Die Teilnahme der Beschuldigten an erzieherischen Maßnahmen ist freiwillig. Die Anregung und Durchführung unterbleiben, wenn einer der Erziehungsberechtigten, die Verteidigerin oder der Verteidiger widerspricht.

Erfolgt die Anregung von Maßnahmen durch die Staatsanwaltschaft, so kann das Strafverfahren im Hinblick auf die zu erwartende Durchführung vorläufig eingestellt werden. Die Staatsanwaltschaft sieht von der Strafverfolgung endgültig ab, wenn der erzieherische Zweck der Maßnahmen erreicht ist. Dies ist spätestens nach Durchführung der Maßnahmen anzunehmen.

Das Absehen von der Strafverfolgung erfolgt in diesen Fällen ohne Einschaltung des Gerichts. Eine Beteiligung der Jugendhilfe im Strafverfahren kann in Fällen des § 45 Abs. 2 JGG geboten erscheinen, um den Erziehungsbedarf zu ermitteln oder geeignete erzieherische Maßnahmen zu finden. Sie kann auch angezeigt sein, um zu ermitteln, ob und welche Leistungen der Jugendhilfe gewährt werden, die ein Absehen von der Strafverfolgung nach § 45 Abs. 2 JGG ohne weitere Maßnahmen ermöglichen (§ 52 Abs. 2 SGB VIII). Schlägt die Jugendhilfe andere als zunächst angeregte erzieherische Maßnahmen vor, prüft die Staatsanwaltschaft, ob ein Absehen von der Strafverfolgung auch im Hinblick auf diese Maßnahmen geboten ist. Dabei berücksichtigt sie die besondere Fachlichkeit und Sachnähe der Jugendhilfe.

Die Einstellungsnachricht an die beschuldigte Person soll in erzieherisch geeigneter Weise auf die Gründe für die Einstellung des Ermittlungsverfahrens eingehen. Sie enthält den Hinweis auf die Folgen einer Eintragung in das Erziehungsregister.

2.2.5 Absehen von der Strafverfolgung nach § 45 Abs. 3 JGG

Erst wenn eine Verfahrenserledigung nach § 45 Abs. 1 und 2 JGG aus erzieherischen oder anderen Gründen nicht ausreichend erscheint, kommt das richterliche Verfahren nach § 45 Abs. 3 JGG in Betracht. Geeignet hierfür sind namentlich Wiederholungsfälle leichter bis mittlerer Kriminalität, die ohne die Förmlichkeit einer Antrags- oder Anklageschrift eine schnelle und unmittelbare Reaktion erfordern. Die Befassung des Gerichts mit dem Ziel einer Ermahnung sollte die Ausnahme sein, etwa wenn Beschuldigte in größerer Entfernung vom Sitz der Staatsanwaltschaft wohnen. In der Regel genügt in diesen Fällen ein normverdeutlichendes Gespräch der Staatsanwaltschaft zur Vorbereitung einer Entscheidung nach § 45 Abs. 2 JGG.

Eine vorherige Beteiligung der Jugendhilfe im Strafverfahren kann in Fällen des § 45 Abs. 3 JGG geboten erscheinen, um den Erziehungsbedarf zu ermitteln oder geeignete erzieherische Maßnahmen zu finden. Regt die Staatsanwaltschaft das richterliche Verfahren nach § 45 Abs. 3 JGG an, so unterrichtet sie davon zugleich die Jugendhilfe im Strafverfahren unter Mitteilung des Tatvorwurfs, es sei denn, diese hat bereits Kenntnis.

Die Einstellungsnachricht an die beschuldigte Person soll in erzieherisch geeigneter Weise auf die Gründe für die Einstellung des Ermittlungsverfahrens eingehen. Sie enthält den Hinweis auf die Folgen einer Eintragung in das Erziehungsregister.

2.2.6 Entscheidungen nach den §§ 47 und 76 bis 78 JGG

Kommt ein Absehen von der Verfolgung gemäß § 45 JGG bei Jugendlichen nicht in Betracht und liegen die Voraussetzungen des § 76 Satz 1 JGG vor, stellt die Staatsanwaltschaft anstelle einer Anklageerhebung in der Regel den Antrag auf Entscheidung im vereinfachten Jugendverfahren gemäß den §§ 76 bis 78 JGG.

Die Staatsanwaltschaft soll bei Jugendlichen und Heranwachsenden nach Erhebung der öffentlichen Klage jugendgerichtlichen Einstellungsanregungen nach § 47 JGG zustimmen, sofern sich die Umstände seit der Abschlussentscheidung der Staatsanwaltschaft so geändert haben, dass ein Absehen von der weiteren Strafverfolgung nunmehr angemessen erscheint. Dies kann insbesondere der Fall sein, wenn geeignete Maßnahmen der Jugendhilfe oder von anderer Seite eingeleitet oder durchgeführt worden sind. Beabsichtigt die Staatsanwaltschaft, die Zustimmung zu einer richterlichen Anregung nach § 47 JGG in der Hauptverhandlung zu verweigern, soll sie die Jugendhilfe im Strafverfahren zuvor anhören, sofern deren Stellungnahme noch nicht vorliegt.

2.2.7 Vermerk für die Eintragung in das Erziehungsregister

Sieht die Staatsanwaltschaft von der Strafverfolgung nach § 45 JGG ab, so vermerkt die Dezernentin oder der Dezernent die Straftatbestände in den Akten, wegen derer ein hinreichender Tatverdacht besteht. Hinsichtlich der Form gelten die Regelungen für die rechtliche Bezeichnung der Tat und die angewendeten Vorschriften in der Urteilsformel entsprechend (§ 260 Abs. 4 Sätze 1 und 2 sowie Abs. 5 Satz 1 StPO). Die Serviceeinheiten nehmen den Vermerk zur Grundlage für die Eintragung in das Erziehungsregister.

In Fällen des § 47 JGG dient die Antrags- oder Anklageschrift als Grundlage für die Eintragung in das Erziehungsregister, es sei denn, dass sich aus der gerichtlichen Einstellungsentscheidung etwas anderes ergibt. In Zweifelsfällen entscheidet die Dezernentin oder der Dezernent der Staatsanwaltschaft über den Inhalt der Eintragung.

2.2.8 Information über örtliche Diversionsmöglichkeiten

Alle mit Jugendstrafverfahren befassten Dezernentinnen und Dezernenten bei den Staatsanwaltschaften werden zu Beginn ihrer Tätigkeit und bei Bedarf wiederholt oder ergänzend auf die bestehenden örtlichen Diversionsmöglichkeiten und ambulanten Angebote der Jugendhilfe für junge Straffällige, die auch im Rahmen der Diversion genutzt werden können, hingewiesen.

2.3 Jugendhilfe im Strafverfahren

Die Jugendhilfe im Strafverfahren entscheidet über die Art ihrer Beteiligung am Diversionsverfahren sowie über die Durchführung und Überwachung erzieherischer Maßnahmen in eigener fachlicher Kompetenz. Sie prüft jedoch frühzeitig, ob für Beschuldigte Leistungen der Jugendhilfe in Betracht kommen. Ist dies der Fall oder ist eine geeignete Leistung bereits eingeleitet oder gewährt worden, so hat die Jugendhilfe im Strafverfahren die Staatsanwaltschaft oder das Gericht umgehend davon zu unterrichten, damit geprüft werden kann, ob diese Leistungen ein Absehen von der Verfolgung (§ 45 JGG) oder eine Einstellung des Verfahrens (§ 47 JGG) ermöglichen.

3. Zusammenarbeit der Behörden

3.1 Fallbezogene Zusammenarbeit

In Diversionsverfahren arbeiten die Staatsanwaltschaft, die Polizei sowie die Jugendhilfe im Strafverfahren vertrauensvoll im Rahmen ihrer rechtlichen Kompetenzen zusammen. Gemeinsames Ziel ist die zeitnahe und erzieherisch wie rechtlich angemessene Reaktion auf jugendtypische Verfehlungen sowie die Verhinderung weiterer Straftaten, die der Entwicklung der Jugendlichen und Heranwachsenden zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit entgegen stehen können.

3.2 Verfahrensübergreifende Zusammenarbeit

Darüber hinaus arbeiten Staatsanwaltschaft und Polizei verfahrensübergreifend zusammen

- zur Verbesserung der Bearbeitung von Einzelfällen,
- zum gegenseitigen Kennenlernen und Förderung des Verständnisses der jeweiligen Rollen und Befugnisse,
- zur Vertiefung der Erkenntnisse über aktuelle Entwicklungen im Bereich des Jugendstrafrechts,
- zum Austausch über Hintergründe und Erscheinungsformen örtlicher Jugendkriminalität sowie
- zur Fortentwicklung der Diversion unter Berücksichtigung spezieller örtlicher Gegebenheiten.

Die Staatsanwaltschaft oder die Polizei laden bei Bedarf mindestens einmal jährlich zu gemeinsamen Dienstbesprechungen ein.

Zu diesen gemeinsamen Dienstbesprechungen sind Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe einzuladen. Bei Bedarf sind auch Angehörige der örtlichen Jugendgerichte und der mit der Betreuung junger Straffälliger vor Ort befassten Träger der freien Jugendhilfe einzuladen.

4. Schlussbestimmungen

Dieser Gem. RdErl. tritt am 1.7.2012 in Kraft und mit Ablauf des 31.12.2017 außer Kraft. Der Bezugserlass tritt mit Ablauf des 30.6.2012 außer Kraft.

__________
An
die Generalstaatsanwaltschaften und Staatsanwaltschaften die Polizeidirektionen
das Landeskriminalamt Niedersachsen
die Polizeiakademie Niedersachsen
die Region Hannover, Gemeinden und Landkreise


Anlage 1

Diversion oder eine anderweitige Einstellung des Verfahrens trotz bestehenden Tatverdachts kommen insbesondere bei folgenden Delikten (einschließlich des Versuchs einer entsprechenden Straftat) in Betracht:

1. § 123 StGB: Hausfriedensbruch;
2. § 142 StGB: unerlaubtes Entfernen vom Unfallort, wenn
- lediglich fremder Sachschaden bis 500,- EUR vorliegt,
- keine Beeinträchtigung durch Alkohol oder andere berauschende Mittel erkennbar ist und
- die erforderlichen Feststellungen nachträglich ermöglicht werden oder die Wiedergutmachung des Schadens konkret in Aussicht steht;
3. §§ 145, 145d StGB: Missbrauch von Notrufen und Vortäuschen einer Straftat bei jugendtypischer Motivation oder Situation;
4. §§ 185 bis 187 StGB: Beleidigung und leichte Fällen übler Nachrede oder Verleumdung;
5. § 202 StGB: Verletzung des Briefgeheimnisses;
6. §§ 223, 229 StGB: vorsätzliche oder fahrlässige Körperverletzung bei leichten Folgen oder geringer Schuld;
7. §§ 240, 241 StGB: leichte Fälle der Nötigung oder Bedrohung;
8. § 242 StGB: Diebstahl;

Richtwerte:
Wert der Tatobjekte
bis 100,- EUR

bei Delikten
betreffend Fahrräder
bis 500,- EUR

9. § 243 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 und 2 StGB: schwerer Diebstahl;
10. § 246 StGB: Unterschlagung;
11. § 248b StGB: unbefugter Gebrauch eines Fahrzeugs;
12. § 248c StGB: Entziehung elektrischer Energie;
13. § 253 StGB: Erpressung;
14. § 259 StGB: Hehlerei;
15. § 263 Abs. 1 und 2 StGB: Betrug;
16. § 265a StGB: Erschleichen von Leistungen;
17. § 266 StGB: Untreue;
18. § 267 Abs. 1 und 2 StGB: leichte Fälle der Urkundenfälschung bei jugendtypischer Motivation oder Situation;
19. §§ 303, 304 StGB: Sachbeschädigung bei jugendtypischer Motivation oder Situation;
20. § 21 StVG: vorsätzliches oder fahrlässiges Fahren ohne Fahrerlaubnis mit Kleinkrafträdern sowie mit Kraftfahrzeugen auf öffentlichen Parkplätzen oder Feldwegen, wenn keine Gefährdung Dritter erfolgt ist;
21. §§ 1, 6 des Pflichtversicherungsgesetzes: vorsätzliche oder fahrlässige Verstöße gegen das Pflichtversicherungsgesetz, sofern keine Gefährdung Dritter erfolgt ist;
22. §§ 95 AufenthG: leichte Verstöße gegen das AufenthG;
23. § 85 AsylVfG: leichte Verstöße gegen das AsylVfG;
24. § 33 des Gesetzes betreffend das Urheberrecht an Werken der bildenden Künste und der Photographie (im Folgenden: KunstUrhG): leichte Verstöße gegen das KunstUrhG;
25. §§ 106 bis 108, 108b Abs. 1 und 2 des Urheberrechtsgesetzes: leichte Verstöße gegen das Urheberrechtsgesetz, wenn
- wirksam auf die Rückgabe der Vervielfältigungsstücke verzichtet oder
- in deren Löschung oder Vernichtung eingewilligt wird;
26. § 52 Abs. 3 und 4 WaffG: leichte Verstöße gegen das WaffG bei jugendtypischer Motivation oder Situation, wenn wirksam auf die Rückgabe der tatbezogenen Gegenstände verzichtet wird;
27. § 29 Abs. 5, § 31 BtMG: leichte Verstöße gegen das BtMG.

Der vorstehende Katalog soll vor allem der Polizei als Orientierungshilfe dienen, in welchen Fällen die Staatsanwaltschaften regelmäßig eine Diversion oder anderweitige Einstellung des Verfahrens prüfen. Er enthält keine abschließende Aufzählung. Diversionsgeeignet können auch andere Verfehlungen sein, sofern Anhaltspunkte für jugendtypisches Fehlverhalten vorliegen, z.B. leichtsinniges, unbekümmertes, ziel- und planloses Handeln aus der Situation heraus, oft getragen von Geltungsbedürfnis oder Erlebnishunger, wie es bei Jugendlichen und Heranwachsenden häufig vorkommt.


Anlage 2

Berichtsformular über ein erzieherisches Gespräch
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